Mist! Als ich an der Anlegestelle ankomme ist nirgendwo eine Fähre zu sehen. Ein Blick auf die Uhr… ich bin sechs Minuten zu spät. Die nächste Fähre geht erst in einer Stunde. Was mache ich so lange? Zu Fuß losgehen? Zeit in Eminönü totschlagen? Für das Erste scheint mir mein Ziel zu weit entfernt. Bei der zweiten Lösung besteht die Gefahr, dass ich auch die nächste Fähre verpasse. Also gehe ich in dem nächsten Park, setze mich auf eine freie Bank und beobachte den Straßenverkehr. Auf den anderen Bänken sitzen Obdachlose. Zwei Mädchen laufen durch den Park. Sie scheinen sich über die Leute, die hier auf den Bänken sitzen, zu unterhalten. Auf Deutsch. Als sie an mir vorbeikommen, meint eine: „Der gehört aber nicht dazu. Der schaut zu gepflegt aus.“ Ich will ihnen noch hinterherrufen, dass ich erst am Anfang meiner Pennerkarriere sei, lasse das dann aber. Später sehe ich die beiden Mädchen auf der Fähre wieder. Leider bekomme ich nicht mit, was sie dazu sagen, dass der Penner aus dem Park nun mit ihnen Schiff fährt.
Das Schiff bringt uns nach Eyüp. Bei meiner ersten Reise nach Istanbul wurde mir Eyüp als Geheimtipp von zwei Reisenden empfohlen. Ein seltsamer Geheimtipp, der in jedem Reiseführer vorkommt. Trotzdem schaffen es viele Istanbulreisende nicht hier her. Obwohl es sich wirklich lohnt. In seiner Biografie schreibt der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, dass ihm dieser Ort immer irgendwie unwirklich erschien. Er beschreibt den Ort als orientalisch, geheimnisvoll, fromm, pittoresk und mystisch. Also ein guter Kontrast zum eigentlichen Istanbul, mit seinem Gemisch aus altem und neuem, wo doch die Verwestlichung Oberhand übernimmt. Zu einem beliebten Ausflugsziel für Muslime, gar zur Pilgerstätte, ist dieser Ort durch seine Moschee geworden. Der Platz um die Moschee herum ist mit weißen Marmorplatten gepflastert. Aus dem gleichen Platten ist die Moschee erbaut. Um die Moschee herum befindet sich ein Basar. Am Eingang stehen Bettlerinnen. Kommt man an ihnen vorbei, befindet man sich im Innenhof. Von der Einrichtung ist die Moschee eher schlicht. In ihr befindet sich das Grab von Abu Ayyub al-Ansari, des Fahnenträgers des Propheten Mohammeds. In einer langen Schlange stehen die Gläubigen vor dessen Grab, berühren die Fahne, die dort liegt und beten. Dann kommt der nächste Gläubige an die Reihe.
Die zweite Sehenswürdigkeit ist der Friedhof. Nicht der Friedhof an sich, sondern eher die Aussicht, die man von dem Berg aus hat, auf dem sich der Friedhof befindet. Hoch kommt man entweder per pedes oder mit einer Seilbahn. Da ich bei meinem ersten Besuch die Seilbahn wählte, gehe ich diesmal zu Fuß hoch. Ein gewundener gepflasterter Weg führt mich hinauf. Links und rechts von mir befinden sich die Gräber. Die Grabsteine sind hier genau so wild aneinandergereiht wie die Häuser in Istanbul. Die Steine schauen eher bescheiden aus. Kommt mal eine Verzierung vor, dann handelt es sich hierbei entweder um arabische Schriftzeichen oder aufgemalte Rosen. Zwischen den Steinen streunen Katzen umher. Von Hunden ist in Eyüp, zumindest in den Bereich, dem ich besuche, keine Spur. Plötzlich bin ich oben auf dem Bergesgipfel. Ich hatte mir den Weg länger und anstrengender vorgestellt. Oben setze ich meinen Friedhofrundgang fort. Danach geniesse ich ein Gläschen çay und den Ausblick auf das Goldene Horn und auf Istanbul. Das Cafe, in dem ich sitze, ist nach Pierre Lotti benannt, einen französischen Schriftsteller. Er saß oft hier oben und liess sich von der tollen Aussicht zu seinen Romanen inspirieren. Sehr berühmt haben ihm seine Romane nicht gemacht. Die Aussicht ist aber trotzdem toll.